Therapietagebuch


Therapietagebuch – Teil 2

Ich habe hier schon einmal über eine Therapiestunde berichtet. Heute Morgen war ich wieder einmal bei meiner Therapeutin und möchte jetzt erneut diesen Blog nutzen, um ein paar Gedanken dazu loszuwerden.
Es ist etwas Zeit vergangen, seit ich zuletzt bei ihr war. Die eine Woche dauernden Herbstferien haben eine Therapiestunde verhindert. So hatte ich heute umso mehr zu erzählen.
Von drei Krisen, die mich in den letzten zwei Wochen ereilt haben, die letzte am Montag. Diese betrachte ich auch als die schlimmste der drei, weil sie keinen Auslöser hatte und ich absolut nichts dagegen tun konnte. Die beiden anderen wurden durch unangenehme Begegnungen mit Menschen ausgelöst, das weiß ich. Die eine traf mich zu einem Moment, als ich eigentlich recht stabil war, die andere an meinem verwundbarsten Tag. In dieser Situation wusste ich zum ersten Mal nicht, wie dieses Leben weitergehen soll. Ich habe keinen Sinn gesehen, keine Hoffnung, keine Zukunft.
Danach ging es ans Eingemachte. Wir haben gemeinsam überlegt, was ich ändern kann. Wir wissen beide, dass man diesen Zustand, an dem ich leide, nicht endgültig besiegen kann. Trotzdem wollen wir versuchen, mir ein so gutes Leben zu ermöglichen, wie es in meinem Zustand möglich ist. Ich habe ihr von dem Hamsterrad erzählt, in dem ich feststecke. Von meiner Einsamkeit, meinem Wunsch Freunde zu finden. Das lässt sich aber zur Zeit nicht umsetzen, weil ich im Alltag immer wieder eine Maske aufsetze, um mich zu schützen. Ich weiß, dass diese Maske nicht unbedingt etwas Gutes ist. Weil ich Gefahr laufe, mich dadurch selbst zu verlieren.
Doch in meinem Alltag habe ich das Gefühl, mich absichern zu müssen. Ich will mich nicht schutzlos, ohne Maske, in dieses Getümmel begeben, das Leben heißt. Die Gefahr ist zu groß, dass ich dabei an irgendeinem Punkt verletzt werde – und dann richtig abstürze. In den meisten Alltagssituationen ist niemand bei mir, der sich vor mich stellen könnte.
Ich weiß, wenn ich Freunde fände, die dauerhaft in meiner Nähe sind und nicht wie meine engsten Freundinnen in anderen Städten studieren, hätte ich jemanden, der mich schützen könnte. Doch um mich mit jemandem anzufreunden, muss ich mich demjenigen anvertrauen – und dafür meine Maske absetzen. Ich muss wissen, dass derjenige wirklich mich meint, den Menschen, der ich bin. Und nicht die Person, die ich vorgebe zu sein und die in Wahrheit nur Teil einer Fassade ist.
Dasselbe Problem hält mich auch davon ab, aus dem Haus meiner Eltern auszuziehen. Mein Befürchtung: Wenn ich eine eigene Wohnung hätte, bekäme ich noch weniger Menschen zu Gesicht als jetzt. Da ich momentan keine Freunde in der Nähe habe, mit denen ich ausgehen könnte, würde ich meine Abende vermutlich alleine auf der Couch verbringen und wenn ich eine Krise hätte, wäre niemand da, der mich vor mir selbst beschützen kann.
Darüber haben meine Therapeutin und ich heute lange diskutiert. Zu einem zufriedenstellenden Ergebnis sind wir nicht gekommen. Weder was das Ausziehen noch was die Freundschaften betrifft. Sie hat mir aber zumindest Mut zugesprochen. Gesagt, dass manche Menschen einander auch in schwierigen Zeiten näherkommen können. Dass es die ganz Besonderen gibt, die durch eine Maske einfach hindurchsehen und den Menschen erkennen. So ganz empfand ich das nicht als richtig. Ich habe nun mal das Gefühl, meinen Beitrag leisten zu müssen, um eine Freundschaft aufzubauen – und das kann ich momentan einfach nicht. Dasselbe gilt für eine Beziehung. Ja, ich hätte an sich gerne einen Freund. Doch ich kann einfach nicht von einem Jungen meines Alters erwarten, dass er mit mir umgehen und mein Gefühlschaos ertragen kann. Dass er abends zu Hause bleibt, anstatt auf Partys zu gehen. Geduldig ist, wenn ich eine Krise habe. Nicht davon genervt ist, wenn ich mich hasse. Einer, der alle diese Voraussetzungen erfüllt, müsste schon der absolute Märchenprinz sein. Ich verlange das nicht von ihm, sondern die Umstände. Eine Beziehung könnte nur dann funktionieren, wenn das alles tatsächlich gegeben ist. Und ich kann nun mal nicht erwarten, dass der Märchenprinz jetzt einfach so auftaucht und den Menschen erkennt, der ich hinter der Fassade, hinter all den Selbstzweifeln bin.
Ich habe keinerlei Vorstellung von einem Mann, mit dem ich eine feste Beziehung eingehen, eventuell später einmal eine Familie gründen könnte. Ich habe keinen bestimmten "Männertyp", keine Liste, auf der ich Punkte "abhake". Nein, ich habe nur einen einzigen Wunsch: Er soll den Wert in mir erkennen, den ich selbst nicht sehe.
Dass dieser Märchenprinz bislang ein Produkt meiner Fantasie geblieben ist, bringt auch meine Zukunftshoffnungen ins Wanken. Ich habe schon einmal geschrieben, dass mich meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrechterhält. Beruflich erfolgreich, meine eigene glückliche Familie. Das Problem an dieser Vision: es gibt zu viele "wenns". Ich muss beruflich vorankommen – geht das in meinem Zustand? Oder werde ich versagen, wenn es mir nicht gut geht? Ich muss einen Mann finden, der passt. Gibt es tatsächlich einen, der bereit ist mich auszuhalten? Die gescheiterte Ehe meiner Eltern macht mir Angst. Was ist, wenn ich dieselben Fehler mache? Ich würde eines Tages gern Kinder in diese Welt setzen. Sollte ich das überhaupt? Oder ist das egoistisch, mute ich ihnen zu, dass meine Krisen möglicherweise ihre Kindheit überschatten? Riskiere ich sogar, dass meine Kinder später genauso werden wie ich? Das will ich nicht.

Meine Therapeutin redet behutsam auf mich ein. Sie will wissen, warum ich so wenig Vertrauen habe. Warum ich automatisch davon ausgehe, dass es kein Mann mit mir aushält. Und da muss es einfach raus. Stockend berichte ich von meiner ersten wirklichen Erfahrung mit dem anderen Geschlecht (wenn man mal meine enge Freundschaft mit einem Jungen zu Grundschulzeiten außer Acht lässt). Sagen wir so, sie ist nicht gerade schön verlaufen. Sie dauerte nur einen Tag und ist in eine Richtung gegangen, die ich nie einschlagen wollte. Ich habe mich lange gefragt, ob ich damals die falschen Signale gesendet, falsch reagiert habe. Ich habe mich dafür geschämt, was passiert ist, es nie jemandem erzählt. Ich wusste, meine Mutter hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, mich zu schützen, hätte ich mich ihr anvertraut. Dann hätten es noch mehr Menschen erfahren. Ich war so überrumpelt von den, nennen wir es höflich Avancen des Jungen, dass ich nicht wusste, wie ich handeln sollte. Ich dachte damals (Achtung, Vorurteil!), dass Jungen solche Avancen doch sicher nur Mädchen machen, die perfekt geschminkt und gestylt sind. Jede Menge Selbstbewusstsein haben, viel lachen. Keinem normalen Mauerblümchen wie mir.
Nein, es ist nichts passiert, damals. Ich habe mich irgendwie doch gewehrt. Trotzdem hat mich das Erlebnis geschockt und nagt immer noch an mir, weil ich es bis heute nie jemandem erzählt habe.
Nein, wir haben auch keine Lösung gefunden, meine Therapeutin und ich. Aber irgendwie hat es einfach gutgetan, mit ihr zu sprechen, verstanden zu werden. Und zu wissen, dass das, was ich preisgebe, nicht an die Öffentlichkeit dringen wird, wenn ich es nicht will.

Irgendwie hat mir dieses Gespräch heute ziemlich viel Kraft gegeben. Hat mir geholfen, durch den Tag zu kommen, eine lange und anstrengende Vorlesung erträglich gemacht. Ich habe meinen "Expecto Patronum"-Zettel in der Tasche gehabt und mich geschützt gefühlt.

Es ist nicht leicht, ich zu sein. Aber da ich nun mal ich bin, muss ich lernen, damit zu leben.

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