Der Fehler in meinem System


Der Fehler in meinem System

Es war ein ganz normaler Tag. So wie jeder andere Tag an der Uni auch. Ein paar Vorlesungen der weniger spannenden Sorte. Doch aus eben diesen Vorlesungen sollte ich diesmal eine Erkenntnis gewinnen.

Der Professor fing an, über Wahrnehmungsphänomenen zu referieren. Zuerst fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren – es war vier Uhr nachmittags, er sprach wahnsinnig schnell und auf den PowerPoint-Folien war so viel Text, dass es unmöglich war, diese parallel zu seinen mündlichen Erläuterungen zu lesen. Ich versuchte aufzupassen, obwohl ich in der Nacht zuvor wieder einmal fast gar nicht geschlafen hatte und unsäglich müde war. Doch mit einem Schlag wurde ich hellwach.

Plötzlich hörte ich etwas, das mich ansprach. Der Professor sprach vom "Fundamental Attribution Error". Dieses Phänomen beschreibt, dass wir Menschen für negatives Verhalten von anderen interne Ursachen suchen. Der Professor erklärte, dass wir Fehlverhalten von anderen Personen auf deren Persönlichkeit schieben. Wenn er uns unfreundlich behandeln würde, so sagte er, würden wir ihn schnell als unfreundlichen Menschen einstufen. Eng mit dem "Fundamental Attribution Error" verwoben sei der "Actor Observer Bias". Dieses Phänomen verweist auf die Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie wir unsere eigenen Handlungen einstufen (Actor) und wie wir die Handlungen von anderen betrachten (Observer). Auch bei diesem Wahrnehmungsphänomen wird davon ausgegangen, dass wir für das Verhalten von anderen Menschen interne Ursachen als Erklärung heranziehen. Bei uns selber, so besagt dieses Prinzip, suchen wir externe Ursachen. Wenn wir uns also dem Professor gegenüber unfreundlich verhielten, so würden wir selbst das auf Stress, Müdigkeit, Streit mit Familie oder Freunden schieben, während er (ähnlich wie wir im ersten Beispiel) sich dadurch ein negatives Bild von unserer Persönlichkeit machen würde.

An dieser Stelle durchzuckte mich plötzlich eine Erkenntnis. Alles in mir schrie: "Das ist es! Das ist mein Fehler im System! Ich habe ihn gefunden!"

Was das heißen soll?

Meistens wird meine Aufmerksamkeit von Phänomenen geweckt, bei denen ich mich selbst wiedererkenne. Bei denen ich denke, das stimmt, das könnte ich sein. Diesmal war es das totale Gegenteil. Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, genau das könnte der Unterschied zwischen mir und so vielen Menschen in meinem Umfeld sein. Lange habe ich mir den Kopf zerbrochen darüber, was uns unterscheidet. Warum wir einfach nicht auf einer Wellenlänge sind, obwohl wir sogar einige Interessen und Werte teilen.

Ich habe das Gefühl, in meinem Gehirn sind die Leitungen, die genau diese Wahrnehmungsphänomene erzeugen, nicht richtig verlegt worden. Der liebe Gott oder die Natur oder wer auch immer, hat geschlampt. Denn: Bei mir ist es genau andersherum!

Nicht den anderen schreibe ich schlechte Charaktereigenschaften oder eine unangenehme Persönlichkeit zu, wenn sie sich mir gegenüber unfreundlich verhalten. Sondern MIR SELBER! Ich entschuldige das miese Verhalten von ANDEREN mit schlechter Tagesform oder möglichen privaten Problemen. Für das, was an mir nicht perfekt ist, hasse ich mich – die anderen verabscheue ich jedoch nicht für ihre Schwächen. Ich gehe sogar so weit mir vorzuwerfen, dass ich es verdient hätte, wenn andere Menschen mich beleidigen.

Ja, das ist er. Das ist der Fehler in meinem System. Wohl fühle ich mich nur in Gegenwart von Menschen, bei denen ich weiß, dass sie ein positives Bild von mir haben. Und nur denjenigen gebe ich einen so tiefen Einblick in meine Psyche, dass sie mein Verhalten tatsächlich mit der Trennung meiner Eltern, meiner Erwartungshaltung an mich selbst, meiner Vergangenheit erklären können. Soll heißen: Die Menschen, die mich verstehen, sind diejenigen, die genau jenen "Fundamental Attribution Error" nicht begehen, weil sie die externen Ursachen kennen, die mein Verhalten beeinflussen. Jetzt mal wissenschaftlich ausgedrückt.

Was mir diese sozialpsychologische Erkenntnis jetzt bringen wird, weiß ich nicht. Obwohl, vielleicht ist dieses Gefühl anders zu sein, in Zukunft leichter zu ertragen, jetzt, wo ich weiß, was mich von so vielen Menschen unterscheidet. Vielleicht lerne ich auch noch mehr Menschen kennen, deren System genau denselben Fehler aufweist. Oder es gelingt mir, mehr Menschen zu sensibilisieren, damit der „Fundamental Attribution Error“ nicht mehr so viel Macht über mich hat. Wer weiß.

Und vielleicht werde ich in Zukunft in langweiligen Vorlesungen einfach aufpassen. Es könnte ja sein, dass ich noch mehr Erkenntnisse gewinnen werde.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Von langen Nächten

Ein Spaßverderber-Post