Von Druck, Erwartungen und eierlegenden Wollmilchsäuen


Von Druck, Erwartungen und eierlegenden Wollmilchsäuen

Ich war ein paar Tage auf diesem Kanal sehr still. Nicht, weil ich keine Lust gehabt hätte zu schreiben (dieser Fall tritt praktisch nie ein, nur so nebenbei). Im Gegenteil, die Ideen sind aus mir rausgesprudelt.
Nein, es war die lahmste Ausrede aller Zeiten, die mich von diesem Blog ferngehalten hat. Die Arbeit. Das Büro. Der zweite Teil meines Praktikums, für den ich nicht nur unter der Woche im Hotel wohnen musste, sondern der auch eine ganz neue Erfahrung für mich war.
Stress, Stress, Stress.
Größtenteils bestand die Arbeit aus Aufgaben, die ich noch nie gemacht habe. Unglaublich viel Information in ziemlich kurzer Zeit, und die sollte ich dann direkt umwandeln in gründliche (und trotzdem möglichst schnell erledigte) Arbeit. Ich war überrascht, wie viel Verantwortung mir übergeben wurde. Dass Aufträge, die bis zum nächsten Tag unbedingt erledigt sein müssen, von der Praktikantin bearbeitet werden.
Natürlich hat mich das irgendwie auch stolz gemacht. Mir wurde es offensichtlich zugetraut, auch schwere und dringende Aufgaben zu lösen. Doch noch mehr hat mich diese Tatsache unter Druck gesetzt.
Ich hasse es, andere Menschen zu enttäuschen. Eingestehen zu müssen, ich kann das nicht, ich brauche Hilfe. Grund dafür ist, dass ich weiß, wie unerschütterlich fest das Bildnis, das sich die Anderen von uns machen, in deren Köpfen verankert ist.
Das Schubladendenken der Gesellschaft.
Ich weiß, es gibt schlimmere Schubladen als die mit dem Prädikat "fleißig, gewissenhaft, nicht ganz auf den Kopf gefallen", in die ich offenbar einsortiert wurde. Gleichzeitig setzt mich das Wissen um die Kategorie, der ich zugeordnet bin, ganz gewaltig unter Druck. Gerade deswegen, weil diese Adjektive auf mich zutreffen. Ich bin fleißig, das heißt, es ist mir wichtig, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel und möglichst gut zu arbeiten. Ich bin gewissenhaft, das bedeutet, ich bin mit nicht weniger als dem bestmöglichen Ergebnis zufrieden. Vor allem, wenn die Aufgaben, wie in diesem Fall, nicht für mich selbst, sondern für die Kollegen sind, möchte ich diese unbedingt entlasten und ihnen ein fehlerfreies Ergebnis präsentieren. Ganz dumm bin ich sicherlich auch nicht.
Meine Chefin scheint die ihr vorliegenden Bewerbungsunterlagen offensichtlich zum Anlass genommen zu haben, mich in eine Schublade zu sortieren. Es sind Bemerkungen gefallen in dieser Woche. "Sie können das sicherlich, Sie hatten ja auch überall gute Noten" (was im Übrigen nicht stimmt – mein Mathe-Abi…ähem) oder, nachdem ich eine englische E-Mail im Fachjargon verfasst hatte: "Das dürfte für Sie ja kein Problem gewesen sein. Mit Ihren Englischkenntnissen…"
Nett gemeinte Sätze. Die den Druck auf mich trotzdem wieder erhöhen. Die mir signalisieren, dass ich nicht genug tue, dass meine Leistungen kein Qualitätsmerkmal seien, sondern Voraussetzung. Dass ich nichts Besonderes tue, sondern etwas Selbstverständliches. Die Erwartungen nicht übertreffe, sondern bloß erfülle.  
Man wagt es nicht, sich von dem Bild, das andere Menschen von uns entwickelt haben, fortzubewegen. Zu fest ist dieses in den Köpfen der Menschen verankert. Wie oft fällt der Satz "das ist so typisch für dich." Ich nehme mich selbst da nicht unbedingt aus. Aber ich habe mal im Duden nachgeguckt, was "typisch" eigentlich bedeutet: "
typisch, Adjektiv. Worttrennung ty-pisch. Bedeutungsübersicht: 1. einen bestimmten Typ verkörpernd, dessen charakteristische Merkmale in ausgeprägter Form aufweisend, 2. für einen bestimmten Typ, für etwas/jemanden Bestimmtes charakteristisch , kennzeichnend, bezeichnend."
Merkmale aufweisend. Damit analysiert man also Menschen. Trocken. Emotionslos. Wie Krankheitssymptome. Bezeichnend – müsste es nicht manchmal gebrandmarkt heißen? Weil wir unseren Mitmenschen einen Stempel aufdrücken "so bist du aus meiner Sicht und anders hast du dich nicht zu verhalten"? Es ist so armselig. Wir nehmen es uns heraus, Urteile über andere Personen zu fällen, uns ein Bildnis zu machen von einer Spezies, die man gar nicht erfassen kann – dem Menschen.
Es geschieht so leicht, immer wieder, dass man jemanden in eine Schublade steckt. Schneller als wir es uns bewusst machen. Ich habe gestern Abend "Wer wird Millionär" geguckt. Ob die Kandidatin die intelligenteste Person auf diesem Erdboden war, sei dahingestellt. Fest steht, dass sie eine Frage nicht wusste. Eine Alkoholfrage. Bei der ich im ersten Moment auch auf dem Schlauch stand, bevor ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen habe, weil bei mir der Groschen gefallen war. Dieses Aha-Erlebnis hatte die Kandidatin erst zu einem späteren Zeitpunkt. Als von der Twitter-Gemeinde schon reichlich Hohn und Spott über sie ausgekippt worden war. Das simple Nichtbeantworten-Können einer Frage führte dazu, dass mit Adjektiven, mit Bezeichnungen wie "strohdumm" und "hohl" nicht gespart wurde. Häufig übrigens auch noch von Usern, deren eigene Tweets vor Rechtschreib- und Grammatikfehlern nur so strotzten.
Ich habe den Kopf geschüttelt. Ja, wir leben in einer Leistungsgesellschaft, aber wann ist es so weit gekommen, dass man keine Fehler mehr machen darf? Dass die Couch-Potatoes, von denen die Mehrheit sicherlich überhaupt nicht weiß, wie es ist, bei "Wer Wird Millionär" auf dem Stuhl zu sitzen (das schließt mich selbst mit ein) die Intelligenz von Menschen anhand von Quizfragen beurteilen? Aufgrund von 15 Fragen aus allen Kategorien, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden?
Ich finde das abstoßend.
Die gegenteilige Situation, in der man in eine "positiv konnotierte Schublade" sortiert wird,  macht es aber auch nicht unbedingt besser. Sobald man mal in einer Schublade steckt, ist man wie gefesselt. Ja, die oben beschriebenen Schubladen, in die ich eingeordnet wurde, sind eine Last, die ich so leicht nicht abstreifen kann. Sie setzen mich unter Druck, bereiten mir Versagensängste. Weil ich die auf mich projizierten Erwartungen unbedingt erfüllen will. Es macht mir Angst darüber nachzudenken, wie es sein wird, falls ich etwas nicht kann. Die Leistungsgesellschaft hinterlässt ihre Spuren. Wann haben sich Menschen zu eierlegenden Wollmilchsäuen entwickelt? Warum ist es mir unmöglich zuzugeben: "Ich kann das nicht. Bitte, hilf mir. So was habe ich noch nie gemacht. Ich brauche mehr Zeit. Ich muss mich erst einarbeiten."
Ich habe erlebt, wie es ist, aus einer Schublade zu springen. Als ich anfing ich selbst zu sein, aufhörte mich zu verbiegen. Die Reaktionen waren teils verwundert. Natürlich, niemand zweifelt gerne an der eigenen Menschenkenntnis. Aber kann man einen Menschen jemals bis ins kleinste Detail verstehen? Das glaube ich nicht, und ich finde auch, es ist gut so. Wir verdienen unsere Privatsphäre, dürfen selbst entscheiden, wem wir was preisgeben. Man kann in Menschen nicht lesen wie in einem Buch. Man kann nicht anhand von wenigen Details, die einem über die Person bekannt sind, auf alles schließen. Ich habe das schon wahnsinnig oft erlebt. Beispielsweise, wenn ich mich als Fan von britischer Popmusik outete. Coldplay, Adele, Ed Sheeran, James Blunt – nur her damit. Muss nicht jeder mögen, aber gefällt mir. Darf es ja auch. Und trotzdem durfte ich mir anhören: "Dass Du so was hörst. Du spielst doch Geige, da hört man doch Mozart und Beethoven und so was."
Ach ja, tut man das? Von dieser Regel höre ich zum ersten Mal. Ich habe absolut nichts gegen klassische Musik, im Gegenteil. Ich gehe gern in Konzerte, höre CDs an und bewundere viele Musiker, Dirigenten und Orchester. Aber ich liebe die Musik deshalb, weil sie so vielfältig ist. Weil es neben klassischer Musik auch noch Rock, Pop, Soul, Funk, Jazz und wie die unterschiedlichen Musikrichtungen alle heißen, gibt. Mir gefällt nicht alles davon, aber genau wie uns Menschen auch kann man Musik nicht einfach in eine Schublade packen. Sie hat so viele Facetten, man kann so unglaublich viel damit machen, sie geht ganz tief in mein Innerstes rein und berührt es, trifft es bis ins Mark. Und das Verrückte ist, genau dasselbe sage ich auch über Menschen. Ich mag das Nicht Perfekte. Mir gefällt nicht jede Seite des Menschen und genauso wenig mag ich auch jedes Genre der Musik. Trotzdem spielt Musik eine unglaublich große Rolle in meinem Leben – und das tun die Menschen auch.
Zurück zu den Schubladen. Ich habe beschrieben, auf welch ungläubige, erstaunte Reaktion man stoßen kann, wenn man seine eigene Schublade sprengt, weil sie einem zu klein geworden ist. Es kann aber auch sein, dass man dadurch erst die Menschen trifft, die wichtig sind, die wir in unserem Leben haben wollen. Weil wir feststellen, dass wir dieselben Werte teilen, was wir nie herausgefunden hätten, wenn einer von uns sich nicht offenbart hätte, nicht gesagt hätte: "So denke ich. Auch wenn ihr mich so nicht eingeschätzt hättet."
Vielleicht werde ich nächste Woche wieder beschließen, meine Schublade zu verlassen, mich zu öffnen. Vielleicht werde ich aufhören, selbst perfekt sein zu wollen, obwohl es bei Anderen paradoxerweise das nicht Vollkommene ist, das mich anzieht. Vielleicht werde ich um Hilfe bitten, wenn ich sie nötig habe, nachfragen, wenn mir etwas nicht klar ist, aufhören, Probleme mit mir selbst auszumachen. Und vielleicht werde ich dafür wieder belohnt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass ich mich dazu entschließen werde, ich zu sein. Und diesen Gedanken finde ich ziemlich schön.   

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