Musikmomente
Entgleiten
Den folgenden Text habe ich im Dezember 2015 geschrieben, also vor über zwei Jahren. Ich habe ihn damals ursprünglich auf Englisch verfasst. Bei dieser Version handelt es sich also um eine Übersetzung und die ist ja bekanntlich immer schlechter als das Original. Trotzdem, vieles, was ich damals geschrieben habe, begleitet mich heute immer noch durch mein Leben. Und deshalb möchte ich diesen Text mit euch teilen. Das darin zitierte Lied bedeutet mir viel.
Entgleiten
Hier hat jemand versucht, die Zeit abzubilden. Das Rad der Zeit, wie es sich unaufhörlich weiterdreht.
Slipping Through My Fingers ist ein Lied, das von Zeit handelt. Genau mein Ding. Die Zeit vergeht so schnell.
“Schoolbag in hand, she leaves home in the early morning
Waving goodbye with an absent-minded smile”
Waving goodbye with an absent-minded smile”
Okay. Eine Mutter, deren
Tochter heranwächst. Ist ja nicht mein Problem. Oder steckt mehr hinter diesen
Zeilen?
Wenn die eigenen Kinder
erwachsen werden, entwickeln Mütter oft eine Midlife-Crisis. Kein schönes Wort,
oder? Finde ich auch, denn eine Krise kann man immer haben, nicht nur an diesem
Zeitpunkt des Lebens. Die Mutter sieht, wie ihre Tochter erwachsen wird. Ich
sehe, wie ich selbst erwachsen werde. Ich bin inzwischen fast 19 Jahre alt und
damit kein Kind mehr. Ich bin eine junge Frau, eigentlich schon eine
Erwachsene. Es gibt melancholische Momente, in denen ich mir wünsche, ich
könnte die Zeit zurückdrehen. Das Leben schien so einfach zu sein, als ich Kind
war. Oder ist das nur im Rückblick so?
“I
watch her go with a surge of that well-known sadness
And I have to sit down for a while”
And I have to sit down for a while”
Ja, auch ich kenne diese
Traurigkeit. Traurigkeit und Melancholie. Manchmal schlucke ich und schüttele
den Kopf über all das, was sich in scheinbar so kurzer Zeit ereignet hat. Mir wird
schwindelig von der Achterbahn meines Lebens und versuche, mich nur für einen
kurzen Moment zu beruhigen. I have to sit down for a while.
“The
feeling that I'm losing her forever
And without really entering her world
I'm glad whenever I can share her laughter
That funny little girl”
And without really entering her world
I'm glad whenever I can share her laughter
That funny little girl”
In diesem Lied singt eine
Mutter von ihrer Tochter. Aber kann das nicht auch ich über mich selbst sagen?
Wenn ich über mein Leben nachdenke, stoße ich immer wieder auf Situationen, die
mich überraschen. Warum habe ich damals so gehandelt? Was für Träume hatte ich
damals und wieso? Ich kann das, was ich damals gefühlt habe, nicht mehr
nachempfinden. Warum habe ich damals so komisch reagiert, warum Dinge so
wichtig genommen, die mir heute überhaupt nichts mehr bedeuten? Ich kann nicht
mehr in meine eigenen Geheimnisse vordringen. Es scheint, als hätte ich einen
Teil von mir selbst verloren, mich zu einem anderen Menschen entwickelt als ich
es erwartet hätte. Umso glücklicher bin ich dann wieder, wenn ich mich
gelegentlich selbst wiederfinde. Jahre später noch über Witze von früher
kichere. Ganz tief in mir drin lebt das kleine, fantasievolle Mädchen von
damals weiter.
“Slipping
through my fingers all the time
In diesen Seifenblasen leben die glücklichen Momente der unbeschwerten Kindheit weiter.
I try to capture every minute
The feeling in it
Slipping through my fingers all the time”
Ich halte es für eine Ausrede,
wenn ich sagen muss, dass ich keine Zeit hatte etwas zu tun, Menschen zu
treffen, weil die Zeit „unter meinen Fingern zerrinnt“. Aber tatsächlich hat
sich das als wahr herausgestellt. Man kann Momente, die man für immer bewahren
will, nicht in Flaschen abfüllen. Wir versuchen, jeden Moment zu bewahren, aber
es ist nicht möglich. Die Zeit vergeht weiterhin unbarmherzig schnell.
Manchmal, in ganz besonderen Momenten, bleibt ein Gefühl zurück. Ein Gefühl,
das wir im Herzen behalten, aber je mehr Zeit vergeht, desto verschwommener
werden unsere Erinnerungen.
“Do I
really see what's in her mind
Each time I think I'm close to knowing
She keeps on growing
Slipping through my fingers all the time”
Each time I think I'm close to knowing
She keeps on growing
Slipping through my fingers all the time”
Diese Strophe eröffnet
ganz neue Perspektiven. Nicht nur die Zeit zerrinnt uns unter den Fingern, auch
Menschen entgleiten uns. Diese Mutter stellt fest, dass ihre Tochter erwachsen
wird, eigene Erfahrungen sammelt, was gut ist. Für die Mutter hat es aber auch
etwas Trauriges, weil ihre Tochter ihr entgleitet.
Wahrscheinlich kennen wir
alle dieses Gefühl. Wir überqueren die Straße gemeinsam mit einem Begleiter,
doch dann trennen sich unsere Wege und wir bewegen uns in unterschiedliche
Richtungen. Und wenn wir uns wiedertreffen, erkennen wir einander nicht wieder,
wissen nicht, was wir aneinander mal gefunden haben. Das ist traurig, aber wir
müssen andere Menschen gehen lassen. Sonst werden wir hinterher feststellen,
dass wir sie eigentlich schon lange vorher verloren haben.
Menschen im Wandel. Manchmal entwickeln wir uns in unterschiedliche Richtungen.
“Sleep
in our eyes, her and me at the breakfast table
Barely awake, I let precious time go by”
Barely awake, I let precious time go by”
Wenn wir merken, dass jemand,
der uns wichtig ist, beginnt uns zu entgleiten, versuchen wir automatisch,
denjenigen fester an uns zu binden. Wir setzen uns unter Druck, so viel Zeit
wie möglich mit diesem Menschen zu verbringen, weil wir in unserem
Unterbewusstsein längst realisiert haben, dass uns nicht mehr viel gemeinsame
Zeit bleibt.
“Then
when she's gone there's that odd melancholy feeling
And a sense of guilt I can't deny”
And a sense of guilt I can't deny”
Genau das ist das Problem.
Wir fühlen uns schuldig, wenn Menschen aus unserem Leben verschwinden. Wir
versuchen wieder Nähe aufzubauen, an der Vergangenheit festzuhalten, weil wir
an alles Schöne denken, das wir zusammen erlebt haben. Wir beginnen zu klammern
und merken nicht, dass je mehr wir versuchen am anderen festzuhalten, die
Person sich nur noch schneller von uns entfernt. Es dauert lange, bis wir
einsehen, dass wir denjenigen gehen lassen müssen. Und dann werden wir melancholisch.
"What
happened to those wonderful adventuresThe places I had planned for us to go
Well, some of that we did but most we didn't
And why I just don't know”
Siehe oben. Wir müssen
aufhören, in der Vergangenheit zu leben und an alles zu denken, was wir zusammen
gemacht haben. Genauso wenig dürfen wir in der Zukunft leben und zu viel Zeit
fürs Pläneschmieden verschwenden. Das Meiste setzen wir nämlich nie in die Tat
um und hinterher fragen wir uns, warum wir diesen oder jenen Plan nie umgesetzt
haben. Die meisten Menschen bereuen mehr Dinge, die sie gemacht haben als
Dinge, die sie nicht gemacht haben.
“Sometimes
I wish that I could freeze the picture
And save it from the funny tricks of time”
And save it from the funny tricks of time”
Wahrscheinlich der schönste
Satz im gesamten Lied. Das ist so wahr. Wie oft wünschen wir uns, die Zeit
anzuhalten, für eine Weile einen Stillstand zu erzeugen. Für eine Minute. Eine
Sekunde. Oder nur für einen einzigen Augenblick. Es ist hart, dass wir das
nicht tun können. Weil die Zeit launisch ist. Je glücklicher du bist, desto
schneller vergeht sie. Einer ihrer „lustigen Tricks“.
Trotzdem. Auch aus diesem
Lied kann man nicht nur melancholische, sondern auch positive Erkenntnisse
ziehen. Es gibt dieses Ding namens Gedächtnis. Manche glücklichen Momente kann
man zumindest für eine Weile bewahren. Alles Gute verliert im Nachhinein etwas
von seiner Magie, aber manche Dinge beschönigt das Gedächtnis auch. Das Meiste,
das langfristig im Gedächtnis bleibt, sind die schöneren Erinnerungen. Wir
versuchen manchmal, uns darin zu verlieren, sie nochmals zu erleben, aber davon
können wir auch häufig enttäuscht werden. Die Zeit muss weitergehen, es geht nicht
anders. Aber uns ist mit dem Gedächtnis die Chance gegeben worden, Gutes zu bewahren.
Wenn man manche Momente doch nur so "einfrieren" könnte!
Und dieses Geschenk sollten wir annehmen.
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