Über das Leben und den Tod


Über das Leben und den Tod
 
 
Dieser Blogpost war nicht geplant. Vielleicht ist es aber ganz gut, dass ich ihn schreibe. Vielleicht hilft das Schreiben diesmal, um schier Unaussprechliches in Worte zu fassen.
Ich habe gestern Abend vollkommen zufällig erfahren, dass eine Grundschulfreundin von mir im Sommer an Krebs gestorben ist. Sie war 19. Viel zu jung, um zu gehen.
Und ich, ich hatte keine Ahnung. Wusste nicht einmal, dass sie krank war. Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr. Krebs ist schrecklich und kann jeden treffen, das weiß ich. Auch sehr junge Menschen. Das Buch "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" ("The fault in our stars") hat mich tief berührt. Aber wenn es dann jemandem passiert, den man mal kannte, ist es plötzlich wieder etwas ganz Anderes.


Manche Dinge treffen einen wie ein Schlag ins Gesicht. Auf #Facebook gesehen, dass eine Grundschulfreundin an Krebs gestorben ist.
Svenja (@SvennieC_ee24) auf Twitter.


Meine Gefühlslage? Alles durcheinander. Schmerz, Trauer, Schock, Schuld. Unverständnis.
Es hat mich schwer geschockt und tief getroffen, dass jemand, den ich früher, vor langer Zeit, mal wirklich gut kannte, eine Person, der ich sehr nahestand, so jung gestorben ist.
Ich habe gestern Abend auch erfahren, dass sie zwei Jahre mit der Diagnose gelebt hat. Dass sie einen Kampf, der eigentlich von Anfang an verloren war, bravourös zu Ende gekämpft hat. Dass sie unendlich stark gewesen ist. Es hat mich traurig gemacht, sehr traurig. Für sie, weil sie für ihren tapferen Kampf nicht belohnt worden ist. Für ihre Familie, die einen so großen Verlust erlitten hat. Für alle, die diese zwei Jahre mit ihr gemeinsam durchgestanden haben. Ich kann mir nicht ausmalen, wie es sein muss, an der Seite einer dem Tod geweihten Person zu sein und nicht zusammenzubrechen. Alle Beteiligten müssen unglaublich stark gewesen sein.

Ein anderes Gefühl: Schuld. Ein mir wohlbekanntes Gefühl. Ich habe eigentlich akzeptiert, dass es okay ist, diese Traurigkeit, Melancholie, Verzweiflung, die immer wieder über mich kommt, zu fühlen. Jetzt bin ich wieder an dem Punkt, an dem ich mich dafür schäme. Weil ich realisiere, wie verdammt gut es mir doch eigentlich geht. Ich bin gesund. Meine Familie, meine Freunde ebenfalls. Meine vier Großeltern sind bemerkenswert fit. Ich werde mich morgen dafür hassen, dass ich diese letzten Sätze geschrieben habe, sind das doch genau die Aussagen, die mich an düsteren Tagen bis ins Mark treffen. Der Satz, ich solle froh sein, dass es mir gut geht – keinen Satz verabscheue ich mehr als diesen. Heute sage ich ihn zu mir selbst.

Ich weiß, dass es Menschen gibt, denen ihr Leben nicht viel wert ist. Und ganz ehrlich, ich kann es nachvollziehen. Mein derzeitiges Leben fühlt sich ganz oft auch nicht lebenswert an. Aber gleichzeitig finde ich es verdammt unfair, dass jemand, der so unbedingt leben wollte, es nicht mehr durfte. Und deshalb bedeutet es mir jetzt, in diesem Moment, unglaublich viel, vor meinem Fenster die Wolken vorbeiziehen zu sehen. Die bunten Blätter an den Bäumen wahrzunehmen. Meine Umwelt zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu riechen. Anzufassen.

Das Wissen, dass ein so junger Mensch genau diese Welt verlassen hat, löst wahnsinnig viel in mir aus. Ich bin traurig und fühle mich gleichzeitig so entsetzlich scheinheilig. Welches Recht habe ich schon, um sie zu trauern? Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Nichts von der Tragödie mitbekommen. Nie gelitten wie so viele Andere es getan haben müssen. Ich habe sie – ganz ehrlich – in den letzten paar Jahren nicht einen einzigen Tag vermisst. Für mich ändert sich nichts. Nichts wäre anders, wenn sie am Leben geblieben wäre, nie die Diagnose erhalten hätte.

Ja, das "was wäre, wenn…?" hat mich gestern Abend und heute sehr beschäftigt. Was wäre, wenn ich nie davon erfahren hätte? Oder andersherum, wenn ich vor ihrem Tod von ihrer Krankheit gewusst hätte? Hätte ich sie noch einmal kontaktiert, ihr etwas mit auf den Weg geben können? Hätte ich ihrer Familie mein Beileid ausgesprochen? Wenn ich vor einem Jahr mitbekommen hätte, wie es ihr geht, hätten wir noch einmal Freundinnen sein können? Würde es mir jetzt besser gehen, wenn ich schon vor ihrem Tod an sie gedacht hätte? Wenn ich ihr noch einmal hätte sagen können, wie sehr ich die gemeinsame Zeit genossen habe? Wenn sie gewusst hätte, dass ich sie nicht vergessen habe und mir in dem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, die Tränen über das Gesicht laufen? Es hat nie einen Streit gegeben, eigentlich keinen Grund die damalige Freundschaft zu beenden. Wir sind beide einfach unserer Wege gegangen, haben uns auseinandergelebt. Erst gestern Abend ist mir aufgefallen, dass unsere Elternhäuser eigentlich gerade einmal zehn Kilometer voneinander entfernt sind. Sicher, ich habe damals meinen Lebensmittelpunkt in die Stadt verlegt, weil ich dort aufs Gymnasium ging. Aber ein Erhalt der Freundschaft wäre, das sage ich jetzt, wo meine Freundinnen über ganz Deutschland verstreut leben, kein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Ich war jung damals, und dumm. Ich habe nicht verstanden, was Freundschaft bedeutet und wie wichtig sie ist.

Das Kopfkino, es lässt mich nicht los. Die Erinnerungen an die damalige Zeit kreisen in meinem Kopf. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, wo ich damals war, im Sommer vor zwei Jahren, als sie die Diagnose erhielt. An welchem Punkt meines Lebens ich angelangt war, was um mich rum passiert ist. Ich wusste sofort, was an dem Tag, an dem sie diese Welt verlassen hat, in meinem Leben passiert ist. Dieser Tag bekommt auf einmal im Rückblick eine ganz andere Bedeutung.

Ich habe überlegt, ob ich an ihre Familie schreiben soll. Ob ich versuchen soll, ihnen Beileid aus- und Trost zuzusprechen. Aber ich glaube, ich lass es. Ihr Tod ist mittlerweile drei Monate her. Vielleicht sind sie dabei, ihn zu verarbeiten. Vielleicht reißt es bei ihnen Wunden wieder auf, die sie gerade versuchen zu heilen. Vielleicht finden sie auch – genau wie ich selbst – dass ich kein Recht habe, zu trauern. Dass ich mir gar nicht ausmalen kann, wie schlimm es für sie gewesen sein muss. Dass ich den Menschen, der sie in den letzten Jahren ihres Lebens gewesen ist, überhaupt nicht kannte.

Gestern Abend habe ich für sie gebetet. Ich tue das nicht oft, aber auf einmal musste es sein. Ich habe mich daran erinnert, dass sie meine Kindheit mitgeprägt hat, wie viele schöne Momente wir zusammen hatten. Und ich habe mir für sie innigst gewünscht, dass sie da, wo sie jetzt ist, keine Krankheit, keine Schmerzen mehr hat. Ihrer Familie habe ich in Gedanken ein großes Kraftpaket zugeschickt.

Ich glaube, ich werde das nächste Mal, wenn ich eine Kirche betrete, eine Kerze für sie anzünden. Und hoffen, dass das Kerzenlicht sie irgendwie erreicht.
Foto: Pinterest

Kommentare

  1. Diese Gedanken kommen mir leider nur zu bekannt vor. Vor einem Monat (scheiße, schon ein Monat?!) ist ein guter Freund von mir gestorben. Ich kannte ihn gerade mal neun Monate und zuletzt hatten wir kein enges Verhältnis mehr (etwa 6 Wochen hatten wir Funkstille, dann hat er wieder ein paar Schritte auf mich zumachen wollen, aber ich wollte einen gewissen Sicherheitsabstand bewahren, da wir unterschiedliche Vorstellungen von Freundschaft hatten und ich mich ihm auch nicht mehr anvertrauen konnte). Es ging bei ihm sehr schnell, nicht mal eine Woche nach Ausbruch seiner Krankheit, war's auch schon vorbei... Seitdem verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich hinterfrage das Leben, ich hinterfrage die vergangenen 10 Monate, ich hinterfrage mich. Ich hab keine Ahnung mehr, wer ich bin und wer ich sein will. Und ich weiß nicht mehr, mit wem ich darüber reden kann; über solche Fragen hab ich immer mit ihm geredet. Meistens haben wir telefoniert, mal eine Stunde, mal drei Stunden, mal nur zehn Minuten, und jetzt wird nie wieder mein Handy klingeln und sein Name da stehen. Ich traue mich nicht, mit unseren gemeinsamen Freunden über ihn zu reden und zuzugeben, dass mir das mehr zusagt, als ich durchblicken lasse. Denn irgendwie fühlt es sich nicht richtig an, dass ich so traurig bin, wo sie alle ihn doch viel länger kannten. Naja. Es bleibt ein Gedankenkarusell. In meinem Kopf drehen sich immer wieder die gleichen Gedanken und ich könnte kotzen über die Ungerechtigkeit, dass er nur 26 Jahre auf dieser Welt leben durfte. Ich verstehe das alles nicht.

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    1. Hallo Lioba,
      erst mal mein Beileid zum Tod deines Freundes. Es muss dir wahnsinnig nahe gehen, dass jemand, den du (wenn auch nur kurz) gut kanntest, so jung sterben musste. Ich kann deine Gedanken sehr gut nachvollziehen, auch wenn ich zu meiner Freundin ja schon jahrelang keinen Kontakt mehr hatte und daher nicht einmal wusste, was für ein Mensch sie inzwischen war.
      Ich wünsche dir sehr, dass du aus diesem Gedankenkarussell bald wieder herausfindest.
      Off-Topic: Ich freue mich immer sehr, von dir zu lesen, sei es hier oder auf Twitter ;-)

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